In Klausuren (Essayfragen), Belegarbeiten und bei Gruppen- und Hausaufgaben geht es oft darum, einen Text zu analysieren, z.B. einen Kommentar aus einer Zeitung oder einen Auszug aus einem wissenschaftlichen Artikel.
Zunächst einmal: Was soll bei solchen Textanalyse-Aufgaben geprüft werden? Sie können zeigen,
- dass Sie Ihre Analyse organisieren können,
- dass Sie die Lektüre und Lernmaterialien eines Kurses gelesen und verstanden haben,
- dass Sie ein Argument in einem eigenen Text entwickeln und formulieren können,
- dass Sie zum kritischen Denken fähig sind.
Was ist "kritisches Denken"?
Das mit dem "kritischen Denken" ist für viele Studenten verwirrend – was soll das denn sein?
- Geht es darum, den Text grundsätzlich negativ zu sehen und zu kritisieren? Nein. Es geht nicht um Ablehnung oder Zustimmung. Sie können einen Text mit "kritischem Denken" auseinandernehmen und ihm am Ende vollen Herzens zustimmen
"Kritisches Denken" ist ein Ausbildungsziel an Hochschulen (Sie können das in den Studien- und Prüfungsordnungen der TH Wildau nachlesen). Kritisches Denken soll Klarheit herstellen und mehr produzieren als nur eine Beschreibung. Man kann einen Text lesen und darüber etwas schreiben, ohne es "kritisch" zu tun. "Kritisch" heißt, dass Sie genauer hinsehen, sich intensiv mit dem Text beschäftigen.
Ein kritischer Denker nimmt eine Aussage nicht einfach hin, sondern untersucht sie, prüft sie, hinterfragt sie, stellt sie in einen Zusammenhang, wägt sie ab, vergleicht sie mit dem eigenen Wissen, gibt eine Bewertung ab.
"Kritisches Denken" bezieht sich also auf Ihre Untersuchungs- und Urteilsfähigkeiten.
Das Ergebnis einer Analyse und Ihr Urteil sollen klar und glaubwürdig sein, genau, präzise formuliert, relevant und fair.
Viele Studenten verwechseln Analyse mit einer Inhaltsangabe. Eine Analyse ist aber mehr als die Beschreibung eines Textes.
- Eine Analyse nimmt den Text auseinander, leuchtet die Hintergründe seiner Argumente aus und bewertet diese auf der Grundlage eigenen Wissens.
- Sie sollen rational, also mit Hilfe Ihrer Vernunft, zu begründeten Schlüssen kommen.
- Sie sollen mehr in einem Text entdecken, als auf den ersten Blick erkennbar ist.
- Sie sollen Zusammenhänge herstellen, auf Argumentationsmuster hinweisen, problematische Stellen finden – und natürlich auch kritisieren, wenn es nötig ist.
Das heißt also, für den kritischen Denker ist ein Text nicht einfach nur ein Text, sondern ein Problem: ein Problem, das gelöst werden will. Eine Textanalyse ist also die systematische und tiefe Problembearbeitung. Sie werden daran gemessen, ob Sie die "Problemhaftigkeit" erkennen und mit geistigen Werkzeugen bearbeiten. Hier geht es um Textverständnis, um Prioritäten (was ist wichtig?), um das Herausarbeiten der zentralen Informationen (Relevanz), um das Zwischen-den-Zeilen-Lesen (wovon geht der Autor aus, was impliziert er, ohne es offen zu sagen? Welche Ziele und Werte stecken hinter Argumenten?), um Interpretation der Informationen, um eine Bewertung der Logik (passen die Argumente
zusammen, ist die Schlussfolgerung richtig?), um Schlüsse und Verallgemeinerungen.
5 Schritte für die Textanalyse: CLUES-Formel
Hilfreich bei der Textanalyse ist die CLUES-Formel. Das englische Wort clue heißt soviel wie Hinweis, Anhaltspunkt oder Schlüssel zum Verständnis. CLUES ist in diesem Fall eine Abkürzung für 5 Schritte einer Textanalyse.
Das
CLUES-Konzept (Zusammenfassung) geht zurück auf die Politikwissenschaft, wo Textanalyse zur Bearbeitung von Quellen und Dokumenten zentral ist. Konkret auf zwei amerikanische Professoren, Christine Barbour (Indiana University) und Matthew Streb (Loyola Marymount University), Autoren der weit verbreiteten Politiklehrbücher
Keeping the Republic und
Clued In to Politics. Man kann die Methode aber ohne Weiteres auf andere Fachdisziplinen anwenden.
Kritisches Denken ist in jeder Wissenschaft gefragt.
CLUES steht für:
- Consider the source and the audience.
- Lay out the argument and the underlying values and assumptions.
- Uncover the evidence.
- Evaluate the conclusion.
- Sort out the political implications.
CLUES 1: Consider the source and the audience.
Jede Art von Kommunikation hat einen Sender und einen Empfänger. Den Zweck eines Textes versteht man besser,
wer für wen geschrieben hat. Wer also ist der Autor, wo erschien die Quelle, wo stehen Autor und Quelle? Und: Wer soll den Text lesen? Wer ist das Publikum? Was könnte die Leser an diesem Text eigentlich interessieren?
Vorrangig geht es darum, die Absicht des Autors zu verstehen. Wenn man weiß, woher der Autor (und die Quelle) kommen, ist das ein zentraler Hinweis (eben ein
clue) auf die Absicht.
Nehmen wir eine Tageszeitung wie das
Handelsblatt, eine Wirtschaftszeitung. Diese wird von Wirtschaftsjournalisten geschrieben, die für die Wirtschaft relevante Nachrichten und Hintergründe liefern wollen. Die Leser sind oft Manager, Investoren und andere wirtschaftsinteressierte Leser. Die wollen
auf den Nachrichtenseiten Qualitätsjournalismus, "objektive", zumindest verlässliche, unabhängige und verlässliche, gut recherchierte Informationen. Das Ziel ist umfassende
Information der Leser.
Auf den Meinungsseiten hingegen geht es um Meinung, Kommentar, Einordnung und Urteil, um Interpretationen und ideologische (weltanschauliche) Richtungen. Hier sollen die Leser von einer bestimmten Position
überzeugt werden. Das
Handelsblatt vertritt dabei in der Regel eher wirtschaftsfreundliche, eher liberale und konservative Überzeugungen, ist eher "rechts von der Mitte" und nicht "links", ist eher für den Markt, eher gegen staatliche Eingriffe in das Marktgeschehen. Umgekehrt ist es bei Zeitungen wie der
Frankfurter Rundschau oder der
taz. Das muss man wissen, das steht nicht oben drüber. Wenn man es weiß (und zeigt, dass man es weiß), hilft das bei der Analyse.
CLUES 2: Lay out the argument and the underlying values and assumptions.
Nun zum eigentlichen Inhalt des Textes. Mit was beschäftigt sich der Autor? Welche Argumente stellt er zusammen, wie baut er Argumente auf?
Wo will er hin? Was ist sein Ausgangspunkt, welche Annahmen stecken dahinter?
Hier geht es auch um
grundlegende Werte, die dem Autor wichtig sind: Nehmen wir noch einmal das Beispiel eines Meinungsartikels aus einer Wirtschaftszeitung wie dem
Handelsblatt. Der Autor kommentiert z.B. die Euro-Krise 2010: Was sollte die EU oder die deutsche Regierung tun oder nicht tun, und warum? Stellt der Artikel ausreichend klar, worum es dabei geht (auch die Begriffe, die der Autor benutzt)?
Das
Handelsblatt ist eine ziemlich gute Zeitung, aber nicht jeder Artikel ist ziemlich gut. Auch in einem solchen Blatt erscheinen Texte, die nicht so gut und klar argumentiert sind. Mancher Text ist oberflächlich gut formuliert, aber hinter der Rhetorik steckt ein unsauberes, unklares oder unlogisches Argument.
Manches Argument wird hinter allerlei Kulissen versteckt. In der Analyse sollen Sie das entdecken und dann auch sagen, wenn etwas unklar ist. Lassen Sie sich nicht verwirren oder einschüchtern, räumen Sie den Sprachmüll beiseite und legen Sie das Kernargument offen, das übrigbleibt.
Die Profs Barbour und Streb nennen ein Beispiel: Man will sich nicht von jemandem einlullen lassen, der sich als überzeugter Verfechter der Demokratie präsentiert, wenn man hinterher feststellen muss, dass der Autor ein völlig anderes Verständnis von Demokratie hat als Sie selbst. Wenn ein Autor also etwas als "demokratisch" darstellt, finden Sie also heraus, was er mit "demokratisch" eigentlich meint.
CLUES 3: Uncover the evidence.
Mit
evidence sind
Belege und Beweise gemeint. Nehmen Sie den Autor ins Kreuzverhör, überprüfen Sie, was er anbietet:
Zahlen, Daten, Fakten, Erkenntnisse von Experten, historische Parallelen und aktuelle Beispiele – alles, was man zur Stützung eines Arguments beibringen kann. Das Beweismaterial sollte möglichst "hart" sein, also in der Wirklichkeit
überprüfbar. Oder zumindest eine solide Begründung, die logisch ist, also in sich
stimmig (Ableitung von einem Prinzip). Oder beides. Wenn es also eine
saubere Begründung gibt – gut. Wenn ein Argument mit seinen Belegen dieser Überprüfung standhält, dann darf man das auch akzeptieren.
Wenn es keine harten Fakten gibt und auch keine logische Ableitung, worauf stützt sich der Autor dann? Wenn Sie genau hinschauen, entdecken Sie vielleicht, dass der Autor nur "
aus dem Bauch" heraus argumentiert. Er appelliert vielleicht an Ihr
Gefühl oder allgemeine Wunschvorstellungen, oder er bezieht sich auf Gerüchte und Hörensagen, nennt keine genauen Quellen, bleibt im Ungefähren, hat keine Zeugen und belastbaren Materialien in der Hand. Das ist dann nicht überzeugend: weg damit!
CLUES 4: Evaluate the conclusion.
Der Autor kommt zu irgendeinem Schluss.
Ist sein Fazit richtig? Finden Sie es überzeugend? Warum? Oder warum nicht? Nachdem Sie den Text gelesen haben, hat sich bei Ihnen etwas verändert? Sehen Sie die Sache jetzt anders, in einem neuen Licht? Haben Sie etwas Neues dazugelernt? Passt das Neue zu dem, was Sie vorher gedacht haben? Wenn Sie den Schluss des Autors akzeptieren, bedeutet das, dass Sie Ihre eigene Einstellung oder Annahmen verwerfen müssen?
Hier geht es noch einmal um Logik: Wenn A und B richtig sind, muss auch C richtig sein. Können Sie das nachvollziehen? Eine Aussage kann als richtig angesehen werden, wenn das Argument gut begründet ist. Was also ist die Begründungskette? Wie stichhaltig ist sie?
Der Autor ist ein "Verkäufer", der mit seinem Leser ein "Verkaufsgespräch" führt. Er vermarktet seine Aussagen. Kaufen Sie, oder kaufen Sie nicht? Warum?
CLUES 5: Sort out the political implications.
In einem politischen Text geht es natürlich auch um die Analyse weiterreichender Folgen. Der Sinn der Sache ist es, die
größere Bedeutung herauszuarbeiten.
Wer A sagt, muss auch B sagen. Was ist in diesem Sinn der Wert einer politischen Aussage, die in einem Text gemacht wird? Ziehen Sie das Argument also "größer": Was sind die Konsequenzen, wenn man dem Autor folgt? Wohin führt das alles? Was macht den Text bedeutsam, was bedeutet er? Verändert es Ihr Verständnis der politischen Welt und wie sie funktioniert? Politik ist – nach der Definition von Harold Lasswell – immer auch die Frage "Who Gets What, When, How" ,
wer bekommt was, wann und wie? Und in der Politik geht es ums Gewinnen und Verlieren:
Wer gewinnt, wer verliert, wenn man dem Autor folgt? Wer hat etwas davon?
Nehmen wir an, im
Handelsblatt schreibt ein Autor zur Euro-Krise 2010, der Euro-Rettungsschirm sei schlecht, weil er "fatale Fehlanreize" für internationale Anleger auf den Kapitalmärkten setze. Also den Leuten, die z.B. auf riskante Staatsanleihen Griechenlands oder unsichere Anlagen in der griechischen Wirtschaft gewettet haben, obwohl sie wussten, dass in Griechenland nicht alles mit rechten Dingen zugeht: "Gläubiger erhalten den Eindruck, dass sie von den Steuerzahlern Europas abgesichert werden. Das kann auf Dauer nicht gutgehen." Der Autor sagt dann, dass die Regierungen Europas auch von den Anlegern verlangen, dass sie die finanziellen Verluste mittragen.
Wie beurteilen Sie das? Ist das eine gute Idee? Ist das gute Politik? Ist es sinnvoll, dass Griechenland nur gerettet wird, wenn Banken, Investoren usw. mit die Zeche zahlen? Was wären die Konsequenzen einer solchen Bedingung für jede Rettungsaktion? Wenn es nicht nur um Griechenland geht, sondern um Irland, Spanien, Portugal, Italien oder welches Land auch immer? Was bedeutet ein solches Signal für die Kapitalmärkte, für die Wirtschaft Europas? Was spricht also insgesamt dafür oder dagegen?
Beantworten können Sie das natürlich nur, wenn Sie die
Zusammenhänge kennen. Darum ist das der anspruchsvollste Teil der Analyse. Sie müssen Ihr
Kontextwissen nutzen, sonst funktioniert es nicht. Sie erkennen sonst nicht die Wichtigkeit bestimmter Aussagen, oder hängen fest, wenn Sie interpretieren müssen. Notwendig ist also der Hintergrund aus Buchlektüre, Vorlesungen, Erkenntnissen aus Diskussionen und Arbeitsgruppen.
Sie verlassen hier ja den Text und gehen darüber hinaus. Es geht nicht nur darum, den Textinhalt zu sezieren, sondern eine eigene Position zu finden und zu begründen. Egal, ob Sie dem Text zustimmen oder ihn ablehnen.