29. Juni 2012

Qualitative Interviews -- Transkripte & Co.

In einer Abschlussarbeit selbst empirische Daten erheben und untersuchen -- das ist echtes Forschen und (leider) in vielen Fächern selten der Fall. Vor allem bei Bachelor-Arbeiten, denn eigentlich ist die Bearbeitungszeit viel zu kurz. Eine Studentin der Verwaltungswissenschaften will es aber wagen und hat in einem Landkreisamt gute,praktische Forschungsobjekte. Nun grübelt sie aber über diese Fragen:
  1. Wie geht man in der Bachelorarbeit genau mit selbst angelegten Onlineumfragen um (Belege etc.)? > Antwort: "Selbst forschen: Umfragen, Interviews, Dokumente auswerten und belegen" (28.6.12)
  2. Wie geht man mit Materialien aus der Verwaltung um (Reden, die von Mitarbeitern gehalten wurden etc.; Ausdrucke, die nicht mehr wirklich zugeordnet werden können; Kopien etc.)? > Antwort: "Graue Literatur und interne Dokumente" (29.6.12)
  3. Wenn man jemanden interviewt, wie macht man dann genau den Beleg?
Der Antwort sei vorausgeschickt:
  • Es führt kein Weg daran vorbei, das mit dem Betreuer detailliert zu besprechen. Persönliche Vorstellungen und Vorlieben, wie empirische Daten und Methoden zu dokumentieren sind, variieren erheblich. 
  • Gerade bei BA-Arbeiten sind viele Betreuer willens, pragmatisch Ansprüche herunterzuschrauben und Kompromisse bei einigen Dokumentationsstandards einzugehen, um die Belastung bei der extrem kurzen Bearbeitungszeit zu senken. Siehe dazu auch den Blogbeitrag:  "Bachelor- und Masterarbeiten: der kleine, große Unterschied" (28.12.10)
  • Lesen Sie im Detail nach, was Handbücher und Ratgeber zum wissenschaftlichen Arbeiten und zur empirischen Sozialforschung dazu sagen.

Qualitative Interviews -- Transkripte & Co.

Frage 3. Wenn man jemanden interviewt, wie macht man dann genau den Beleg?

Zunächst einmal: Qualitative Interviews müssen im Methodenteil erläutert werden -- wie quantitative Befragungen auch. Warum und nach welchen Kriterien wurde wer ausgewählt? Sind die Befragten Akteure/Handelnde/Entscheider, Betroffene, Experten? Wie haben Sie sie angesprochen? Wie wurden die Fragen entwickelt? Wie wurden die Antworten ausgewertet? usw. Irgendwo muss eine Liste der Interviewpartner erscheinen. Im Anhang können Kurzbiographien der Befragten eingefügt werden - oder eine Kurzbeschreibung deren Stellung (z.B.: Sachbearbeiter mit Zuständigkeit für X).

Im Hauptteil werden Sie in der Regel mit wörtlichen Zitaten arbeiten, mal länger, mal kürzer, dann auch mit Zusammenfassungen. Wörtliche Zitate sind vor allem dann geeignet, wenn der Befragte etwas sehr zugespitzt und plakativ ausdrückt, seine persönliche Einschätzung oder Meinung ausdrückt. Reine Faktenaussagen sollte man eher zusammenfassen.

Im Quellenverzeichnis sollte die Liste der Interviews in einer eigenen Rubrik erscheinen. Der Langbeleg enthält Informationen zum Namen des Befragten, zu seiner Position/Funktion, zu Ort, Zeitpunkt und Dauer des Interviews.

Auf diese Angabe bezieht sich dann auch der Quellenbeleg im Haupttext (z.B. als Kurzbeleg "Interview Schulze, 2012"). Handelt es sich nicht um formale Interviews, sondern eher Gesprächsnotizen, ein Telefonat oder eine Email, ist die Belegweise "Schulze, persönliche Kommunikation, 20. Juni 2012" inzwischen üblich.

Im Idealfall dokumentieren Sie das gesamte Interview im Anhang in Form eines Transkripts. Ein Transkript ist die wörtliche Niederschrift der Ton- (oder gar Video-) Aufzeichnung -- wenn Sie denn eine gemacht haben.

Es ist auch möglich, Interviews nur mit einem Notizbuch zu führen. Diese Art Aufzeichnung ist natürlich nicht so genau; und sie verlangt etwas Übung -- Sie können ja nicht nur schreiben, Sie müssen auch das Gespräch führen; und wer kein Steno kann, ist möglicherweise sehr langsam beim Notieren. Aber nicht jeder Interviewpartner erlaubt eine Bandaufzeichnung. Manchmal stört sie die Gesprächsatmosphäre.

Ein simples "Abtippen" ist Transkription nicht. Sie können ein Gespräch mit allem, was dazugehört, nicht 100-prozentig in Textform wiedergeben. Bei den nichtverbalen Aussagen und Reaktionen, beim Gesprächskontext usw. ist das klar. Aber selbst das Gesagte erscheint bei vielen Transkripten nicht ganz so, wie es tatsächlich gesagt wurde.

Bei manchen Transkripten ist es nur eine sinngemäße Zusammenfassung. Bei anderen ist das Gesprächsprotokoll zwar wörtlich, aber sprachlich "geglättet": Nur wenige Menschen sprechen druckreif. Die im mündlichen Verkehr üblichen Stummelsätze, grammatisch chaotischen Bandwurmsätze, Verhaspelungen und Versprecher, die im Gespräch gar nicht weiter auffallen, sind bei einer penibel wörtlichen Niederschrift hinterher ein Graus: nämlich schlicht unlesbar!

Manche Wissenschaftler haben an der genauen sprachlichen Ausdrucksweise ein großes Interesse, Sprachforscher, Psychologen und Soziologen etwa. Da zählen auch die "Ähs" und "Mmmhs" und das Gestammel. In einer verwaltungswissenschaftlichen Abschlussarbeit ist das wahrscheinlich nicht so, da geht es um andere "Inhalte".

Sie werden sich also bei der Transkription eher darum bemühen, die Sätze möglichst nah an der wörtlichen Aussage, aber dennoch lesbar ins Schriftliche zu übertragen. Aus unvollständigen werden vollständige Sätze, Versprecher werden beseitigt usw. Das ist dann aber alles schon Interpretation -- oder um es ganz krass auszudrücken, Sie sind dabei, die Wirklichkeit zu verfälschen, zumindest zu verändern, Sie greifen in die Aussagen direkt ein. Machen Sie sich also klar, welche Entscheidungen Sie bei einer Transkription fällen müssen, welchen Regeln Sie folgen. Wichtige Hinweise dazu gibt das kleine "Praxisbuch Transkription" von Dresing und Pehl.

Transkription ist enorm zeitaufwändig und mühsam, sie erfordert äußerste Konzentration und penibles Redigieren und ständiges Überprüfen. Inzwischen gibt es Software (siehe dazu ebenfalls das "Praxisbuch"), aber der Computer nimmt Ihnen die Arbeit nicht vollständig ab. Für ein einzelnes Interview, das eine Stunde dauert, kann der Transkriptionsaufwand - je nach Methode - schon eine oder mehrere Tage in Anspruch nehmen.

Braucht man ein vollständiges Transkript? Die Frage hat zwei Seiten:
  • erstens die nach der eigenen Auswertung des Gesprächs, 
  • zweitens die nach der Dokumentation in der Abschlussarbeit.
Bei der eigenen Auswertung mag es ausreichen, die Aufzeichnung mehrfach abzuhören und dann die wertvoll erscheinenden Auszüge (also das, was Sie wörtlich zitieren wollen) zu transkribieren. Den Rest fassen Sie zusammen (am besten mit Notieren des Zeitzählers). Merken Sie später, dass Sie noch einmal zurück zur Aufzeichnung müssen, ist das ja kein Problem.

Dies gilt für "normale" Interviewauswertung. Wenn Sie anderes vorhaben -- z.B. eine formale und quantitative Inhaltsanalyse --, werden Sie dagegen ein Voll-Transkript benötigen. Wenn Sie sehr viele Interviews führen, fällt es schwer, die Übersicht über die Inhalte zu behalten. Nutzen Sie in einem solchen Fall z.B. Citavi oder eine andere mit Literaturverwaltung gekoppelte Wissensmanagement-Software, in der Sie Ihre Notizen und Zusammenfassungen komfortabel speichern und im Volltext suchen können.

Bei der Dokumentation müssen Sie mit dem Betreuer sprechen. Bei einer Bachelor-Arbeit gibt es nur 8-12 Wochen Bearbeitungszeit. So sollten Sie den Betreuer fragen, ob er auf vollständigen Transkripten besteht, die im Anhang abgedruckt werden müssen.


Meine persönliche Auffassung ist: Das muss nicht unbedingt sein, und der Zeitaufwand geht klar zu Lasten aller anderen Aufgaben, die bei einer Thesis zu erledigen sind. Wenn wir Studenten bei einer kurzen BA-Thesis dazu ermutigen wollen, selbst zu forschen, dann geht das nur unter eingeschränkten Ansprüchen. Allein die Vorbereitung, Terminvereinbarung, Durchführung, inhaltliche Auswertung von Interviews, Autorisierung (s.u.) der Zitate und das "Einbauen" in den Text kostet viel Zeit. Wenn ein Student von 8 Wochen BA-Bearbeitungszeit eine Woche netto nur mit Transkribieren beschäftigt ist, ist das arbeitsökonomisch fragwürdig.

Bei einer Master-Arbeit mit längerer Bearbeitungszeit ist der höhere Aufwand eher gerechtfertigt. Ich hatte auch schon Master-Studenten, die unbedingt Volltranskripte erstellen wollten -- weil sie in ihrer Literatur selbst von Transkripten anderer als Quellen profitiert haben und nun ihrerseits einen Beitrag zur Fortentwicklung des Themengebiets leisten wollten. Ehrenhaft.

Als Letztes: In der Regel wollen Interviewpartner das Transkript lesen und autorisieren, manchmal auch nachkorrigieren. Zumindest die Passagen, mit denen sie  tatsächlich zitiert werden.

Ob Sie das anbieten oder darauf eingehen, ist Ihre Entscheidung. Sie müssen sich mit dem Gesprächspartner auf Spielregeln verständigen, und zwar vorher! Es kann zwar sein, dass der Gesprächspartner einige zugespitzte Aussagen wieder "kassiert". Dann müssen Sie möglicherweise verhandeln, "was geht", wenn Sie die Passage "retten" wollen. Andererseits hat der Interviewpartner aber auch ein legitimes Interesse daran, dass er nicht in seinem eigenen Umfeld Ärger bekommt, weil er mit Ihnen gesprochen hat. Zur Not ist die Anonymisierung der Aussagen eine Lösung -- manchmal geht es nicht anders, und manches Interview findet nur unter dem Mantel der Anonymität statt. Zudem ist es so, dass sich in Transkripte Fehler einschleichen. Manchmal versteht der Interviewende etwas falsch, oder der Interviewte hat spontan eine fehlerhafte Aussage gemacht. Das Gegenlesen ist dann die Chance zur Korrektur oder Präzisierung. Das ist also nicht nur als Einschränkung, sondern auch als Verbesserungsmöglichkeit zu sehen.

Und noch einmal zum Zeitmanagement aus der Forschungspraxis:
  • Wenn Sie eine halbe oder eine Stunde mit einem Interviewpartner sprechen, entsteht daraus ein seitenlanges Volltranskript. 
  • Wenn Sie dem Interviewpartner nun Ihre 5 oder 10 Seiten zum Gegenlesen schicken, mag es viele Wochen dauern, bis das "OK" kommt. Wenn es sich um vielbeschäftigte Leute handelt, können Sie noch so drängeln -- das Lesen und Prüfen und Korrigieren eines solchen Transkripts hat geringe Priorität, ist mühsam und wird eben gern immer wieder verschoben. Das Risiko des Zeitverzugs aber tragen Sie! Und es hilft Ihnen nichts, wenn Sie für Ihre BA-Thesis 10 Interviews führen, aber bei fünf davon liegen die Transkript-Autorisierungen erst Tage oder Wochen nach Ihrem Abgabetermin vor.
  • Die Chance einer schnellen Autorisierung steigt, wenn der Interviewpartner nur ein paar Absätze mit Einzelzitaten überfliegen muss. Das spricht also auch dafür, kein Volltranskript im Anhang der Arbeit zu dokumentieren, weil es dann eben auch einer Abnahme/Abstimmung desselben bedarf. 

Will Ihr Betreuer unbedingt Volltranskripte, aber Sie möchten das Zeitproblem bei der Autorisierung beherrschen, wäre noch ein Kompromiss möglich: Sie lassen nur die tatsächlich verwendeten Zitate autorisieren. Die Volltranskripte kommen in den Anhang, werden aber für das Bibliotheksexemplar Ihrer Thesis gesperrt ("Sperrvermerk"), sind also für die Öffentlichkeit nicht zugänglich.

Siehe auch die Posts:
Literaturtipp zur Transkription:

Dresing, T. & Pehl, T. (2011). Praxisbuch Transkription. Regelsysteme, Software
und praktische Anleitungen für qualitative ForscherInnen.
3. Auflage. Marburg: Dr. Dresing und Pehl GmbH. Online auf http://www.audiotranskription.de/Praxisbuch-Transkription.pdf [28.06.2012].

1 Kommentar:

  1. Robert Czaplinski10. Oktober 2012 um 13:19

    Meine Abschlussarbeit soll einen Sperrvermerk enthalten. Ist der Sperrvermerk selbst Gliederungspunkt vor dem Hauptext?

    Vielen Dank

    Robert Czaplinski

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