Ich poste das auf Facebook, und nach ein paar Minuten tackert einer meiner Studenten an meine Pinnwand: "Ich befürchte, den Brief könnten wir alle schreiben..."
Umso dramatischer wird es, stellt man das nun noch in die Kulisse der häufigen Klagen über Erschöpfung, Prüfungs- und Leistungsdruck an den Hochschulen (jüngste Spiegel-Artikel: "Ausgebrannte Studenten: Lost in Perfection", "Warum Studieren ein Knochenjob ist"; "Studenten im Optimierungswahn: Karriere, Karriere, Knick").
Charlotte Haunhorst hat gelernt, dass Selberdenken und Tiefschürfen an der Uni nicht gefragt ist. Dass Auswendiglernen von Vorlesungsskripten bessere Noten produziert, als sich zum motivierten Selbststudium anstiften zu lassen. Dass Lernbulimie der Weg zum Überleben ist. Sie lernt, dass Studenten, die ihr Studium ohne Lektüre irgendeines Buches absolvieren, nicht blöd sind, sondern schlau und erfolgreich. Dass man seine Individualität abgeben und konform sein muss. Dass das Selbstvertrauen erschüttert wird, wenn man sich eigene Ziele setzt. Und dass leidenschaftliche Lehrer ein Versprechen abgeben, dass die Welt nicht halten wird. Irgendwann ist der Wille gebrochen, dem System zu trotzen. Ratschlag an den Lehrer: "Nehmen Sie Abstand von Ihrem Bildungsideal. Lehren Sie nur das Vorgeschriebene und schwören Sie die Kinder möglichst früh darauf ein, nichts mehr zu hinterfragen. Das ist sowieso eher lästig und obendrauf noch anstrengend."
Realismus vs. Romantik: Der Konflikt um Bildungsideale, Nützlichkeit und Leistungsstandards ist in der Tat ein alter. Auch Hollywood hat ihn oft in Szene gesetzt, vom "Club der Toten Dichter" (Robin Williams) über "Club der Cäsaren" (Kevin Kline) bis zu "Mona Lisas Lächeln" (Julia Roberts) – DVD-Klappentext: "In einer Welt, die ihnen vorschrieb, wie man lebt, lehrte sie sie, wie man denkt".
Bei aller augenfeuchten Sentimentalität und Sympathie für den leidenschaftlichen Lehrer, der zum eigenen Denken anregt, inspiriert und motiviert, steht am Ende immer die Frage: Wer später an der Hochschule, im Beruf, im Leben vorankommen will – wird der nicht besser vorbereitet, wenn er rechtzeitig beigebracht bekommt, wie man sich an die Spielregeln hält und sich die Belohnung für Leistung abholen kann, die an den Standards und Maßstäben der maßgeblichen Leute gemessen wird? Das ist auch der Kontext der aktuellen Debatte um die Erziehungsmethoden der "Tigermutter" Amy Chua. Die sagt schließlich auch, ihr asiatischer Leistungs-Drill macht die Kinder nicht nur erfolgreicher, sondern glücklicher.
- In einer Schlüsselszene im "Club der Toten Dichter" sagt Lehrerkollege McAllister zum charismatischen Englischlehrer Keating: „Ich finde es sehr riskant, diese Jungs zu ermutigen, Künstler zu werden, John, denn wenn sie feststellen, daß sie keine Rembrandts, Shakespeares oder Mozarts sind, werden sie Sie verachten.“ Er sei kein Zyniker, betont McAllister, nur Realist, und zitiert den englischen Dichter Lord Tennyson: "Zeig’ mir ein Herz, das frei ist von törichten Träumen, und ich zeig’ Dir einen zufriedenen Menschen.“
Mit beiden Beinen fest auf der Erde. Das macht den Realisten aus. Realitätssinn und Rationalität sind wichtig und notwendig, ja. Erst recht im Studium. Das bedeutet aber nicht totale Anpassung, sondern intelligente Balance.
Man kann wissenschaftliche Ausbildung nicht betreiben, ohne Standards, Spielregeln und gesicherte Methoden zu vermitteln und abzuprüfen. Das kann Neugier und Inspiration dämpfen, sogar abstumpfen, keine Frage. Auf der anderen Seite besteht Wissenschaft auch darin, hinter die Annahmen zu schauen, altes Wissen zu hinterfragen und neues Terrain zu erkunden. Wer sich das austreiben lässt, versteht den ganzen Sinn der Ausbildung falsch. Mag ein, dass die Hochschule diese Botschaft nicht immer so vermittelt, wie sie es sollte. Aber wer die Botschaft hören will, der kann sie im Studium auch hören.
Weil er selbst so ermattet und enttäuscht klingt, ist Lehrer Bodes Antwortbrief nicht halb so bemerkenswert wie Charlotte Haunhorsts Klageschrift. "Du schaffst es schon!", schreibt er mit tröstenden Worten; sie soll sich nicht verbittern lassen, sondern ihren eigenen Weg gehen. "Den von dir so vermissten Transfer hast du schon selbst geleistet. Du hast erkannt, dass Lehranstalten und universitärer Massenbetrieb einem niemals das vermitteln können, was in einem selbst als Talent und Passion angelegt ist und wofür man sich zu engagieren bereit ist."
Wahr; und auch nicht wahr. Ideen und Inspiration, Aha-Momente und neue Perspektiven lassen sich an Hochschulen immer noch besser sammeln als an vielen anderen Orten. Vielleicht liegt es daran, dass hier weniger Realisten zu finden sind als anderswo.
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