Zahlen sind immer irgendwie beeindruckend. Sie lassen Darstellung und Interpretation handfester wirken als blanke Texte, stützen verlässlich das Argument. Daten sind das Fenster in die Wirklichkeit. Sie sind der ultimative Beleg in einer wissenschaftlichen Arbeit, und was wäre eine PowerPoint-Präse ohne Charts mit Tabellen, Kurven, Balken und Torten? Wer eine Parade von Zahlen aufmarschieren lässt, wirkt nie wie ein Dummschwätzer.
Ganz im Ernst: Zahlen sind in allen Wissenschaften gefragt. Mit Zahlen umgehen und "Daten sprechen lassen" zu können, gilt zu Recht als ein wichtiger Ausweis wissenschaftlichen Könnens, geht es doch um die Fähigkeit, Daten zu sammeln und auszuwerten. Es ist also ratsam, dieses Können auch bei einer Thesis zu zeigen – selbst wenn sie nicht als quantitative Untersuchung ausgelegt ist.
Das gilt insbesondere für die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Statistik jeder Art spielt hier eine zentrale Rolle. Leider sind die Grundlagen-Lehrveranstaltungen im Studium oft vorrangig theoretisch ausgelegt: Man lernt die Grundbegriffe, ein paar Werte und Formeln, vielleicht etwas über Statistiksoftware. Viel weniger aber darüber, wo man geeignete Zahlen findet (siehe dazu den Beitrag: "Statistik für den Gelegenheitsnutzer") und wie man sie in eine eigene Arbeit einbaut – und noch weniger darüber, wie man sie kritisch bewertet und wie man sich davor schützt, auf "getürkte" Zahlen hereinzufallen.
"Mit Zahlen lügen" ist der Titel einer Sendung des WDR-Wissenschaftsmagazins Quarks & Co von 2006. Dazu gibt es online ein gut gemachtes Begleitheft (PDF) und eine lohnenswerte Website, die z.B. erklärt, mit welchen Tricks Infografiker arbeiten ("Die schlechtesten Grafiken der Welt"). Die Sendung ist auf YouTube anzusehen (Teil 1, Teil 2, Teil 3 und Teil 4).
Es ist nicht schwer, sich schnell ein paar Statistiken herbeizugoogeln. Auf den Internetseiten von Presse und Sendern, Verbänden und Instituten, Ämtern und Unternehen, in Blogs und Foren findet sich vieles, was man flugs kopieren kann. Der Haken dabei ist:
- Das sind meist schon aufbereitete Daten, das heißt, sie stammen aus einer anderen Quelle.
- In der Regel wird die Ursprungsquelle angegeben, aber nicht genau; und es wird auch nicht erklärt, wie die Daten zustande gekommen sind.
- Wer die Zahlen benutzt, verfolgt damit einen Zweck. Er nimmt sich aller Wahrscheinlichkeiten nur die Zahlen, die zum Zweck passen – und präsentiert sie so, dass sie ihm noch besser dienen. "Halbe Wahrheiten" sind oft das Ergebnis.
- Besonders problemanfällig sind Befragungen, vor allem aktuelle "Meinungsumfragen". Im Gegensatz zu den meisten "richtigen" Statistiken messen diese keine handfesten Tatsachen, zudem nur durch Stichproben; und Frageformulierungen und Fragekontext sind bei "Umfragen" weit leichter zu manipulieren als z.B. bei den oft ziemlich detailliert und verbindlich geregelten Messungen der öffentlichen Statistik.
Besonders problematisch ist es, wenn die Statistikdarstellung aus den Medien stammt. Da verlässt man sich z.B. darauf, dass eine seriöse Tageszeitung schon geprüft hat, ob die Statistik Hand und Fuß hat. Journalisten sind aber notorisch schlecht darin, Statistiken zu beurteilen. Sie sind darin kaum oder gar nicht ausgebildet, sie haben im Alltag keine Zeit und übernehmen vieles von dem, was ihnen irgendwelche PR-Leute liefern. Was halbwegs interessant und plausibel ist, wird gedruckt und gesendet. Eine Woche später möglicherweise eine Statistik, die das Gegenteil besagt. Dazu zucken die Journalisten mit den Schultern. Anders gesagt: Die Medien sind voll mit manipulierten Statistiken.
Weil Statistiken so schön Aussagen belegen, wird in allen Lebenslagen, vor allem aber in Wirtschaft und Politik, "verschleiert, übertrieben und manipuliert", wie die Berliner Zeitung jüngst in dem Beitrag "Die Tücken der Zahlen" festgestellt hat:
"Statistiken sind eine heikle Sache. Einerseits erscheinen Zahlen klar, objektiv und eindeutig. Sie sind Botschafter aus dem Reich der reinen Logik, der Mathematik. Andererseits kann man mit Zahlen verschleiern, übertreiben, manipulieren. Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast, sagt der Volksmund. Gleichzeitig 'glauben viele Menschen an Zahlen, als wären sie eine Religion', sagt der Statistiker Gerd Bosbach. (...) Zahlen sind also gefährlich - aber nicht nutzlos. 'Wer vernünftige Entscheidungen treffen will, kommt um Statistiken nicht herum', so Bosbach. Statistiken zu ignorieren ist daher auch keine Option."
"Lügen mit Zahlen: Wie wir mit Statistiken manipuliert werden", heißt ein Buch, das Gerd Bosbach, einst am Statistischen Bundesamt (Destatis) und nun Professor der FH Koblenz, publiziert hat.
Das Buch knüpft nahtlos an einen anderen Bestseller an, der schon Generationen von Studenten begleitet hat: "So lügt man mit Statistik" von Walter Krämer (TU Dortmund) sowie "Statistik verstehen: Eine Gebrauchsanweisung" vom selben Autor.
Die Bücher knöpfen sich die Manipulationen von Grafiken vor, mit denen eine ohnehin fragwürdige Statistik-Aussage noch stärker verzerren lässt. Aber sie zeigen auch auf, wie die Auswahl und Zusammenstellung von Zahlen selbst zu überprüfen ist.
Die Berliner Zeitung greift einige Beispiele aus dem Bosbach-Buch auf:
Vor zwei Jahren legte die Bundesregierung eine milliardenschwere Abwrackprämie auf. Ziel: Stützung der heimischen Autoindustrie. Im Sommer 2009 hieß es jedoch, Nutznießer der Prämie seien vor allem ausländische Konzerne, allen voran Hyundai. Der koreanische Autobauer hatte seine Verkäufe in Deutschland um 146 Prozent erhöht, bei VW lag das Plus nur bei 26 Prozent. Tatsächlich war es umgekehrt: In absoluten Zahlen lag VW mit 330000 zusätzlich verkauften Autos auf Platz eins der Prämien-Profiteure. Hyundai verbuchte zwar die größte prozentuale Steigerung, verkaufte aber letztlich nur knapp 50000 Autos mehr.Oder ein Beispiel aus der Sozialpolitik:
So schreckte das Arbeitsministerium die Bevölkerung mit der Meldung auf, zwischen 1991 und 2008 seien die Sozialausgaben von rund 400 auf über 700 Milliarden Euro gestiegen - ein Plus von 75 Prozent! Das stimmt zwar, ist aber nicht weiter verwunderlich, denn in diesem langen Zeitraum sind auch fast alle anderen Ausgaben stark gestiegen. Aussagekräftiger als die absoluten Zahlen ist daher der Anteil der Sozialausgaben an der Wirtschaftsleistung. Und hier zeigt sich: Dieser Anteil lag 2008 bei etwa 28 Prozent und damit so hoch wie 1992. "Wenn die sozialen Probleme größer werden, wir für ihre Bewältigung aber einen stagnierenden Anteil des BIP ausgeben, müsste man eher von einem Abbau des Sozialstaates sprechen als von Wildwuchs", so Bosbach.Oder aus der Finanzwelt:
In anderen Fällen stehen geldwerte Interessen hinter den Statistiken. Zum Beispiel die der Finanzberater. Bei ihren Berechnungen kann ihnen die Wahl des Zeitraums gute Dienste leisten, um Kunden zu Aktieninvestments zu bewegen. So können sie darauf verweisen, dass der Deutsche Aktienindex in den vergangenen zwei Jahren um 60 Prozent gestiegen ist. Das klingt beeindruckend. Weniger beeindruckend ist hingegen die Wertentwicklung über drei Jahre: minus drei Prozent.Oder die Bevölkerungsentwicklung:
Mit der Wahl eines geeigneten Zeitraums der Betrachtung kann man auch aus der Alterung Deutschlands eine "Demografie-Bombe" machen. Derzeit kommen auf 100 erwerbsfähige Menschen 34 Menschen über 65 Jahren. Bis 2050 soll dieser Altenquotient auf 65 steigen. Wer deshalb vor einer Demografie-Bombe warnt, "verschweigt, dass sich der Altenquotient von 1950 bis heute auch verdoppelt hat - von 17 auf 34", mahnt Bosbach - ohne eine Katastrophe auszulösen."Oder Ausländer und Kriminalität:
Anfällig für Missbrauch sind Ausländer-Statistiken. So liegt der Anteil der Ausländer an den Kriminellen stets höher als bei Inländern. Sind Ausländer also per se krimineller? Wohl kaum, so Bosbach. Dass mehr Ausländer kriminell sind als Inländer, bedeute nicht, dass der Grund dafür in ihrem Ausländer-Dasein liegt. So sind Migranten im Schnitt jünger als Deutsche - und Kriminalität ist stets ausgeprägter bei jungen Menschen. Auch ist der Anteil der Männer bei Ausländern höher - wie bei allen Kriminellen. Zudem leben Migranten häufiger in Großstädten und sind eher arm - beides Merkmale, die bei Straftätern öfter auftreten als im Durchschnitt.Da denkt man dann auch gleich an die Kontroverse um das mit vielerlei Statistiken gewürzte Buch "Deutschland schafft sich ab" von Thilo Sarrazin. Seine Zahlenspielereien waren die ultimative Statistikdebatte im Jahr 2010 – wobei zu betonen ist, dass der Medien-Krawall vor allem durch die Schlussfolgerungen ausgelöst wurde, die sehr viel mit Grundwerten und politischer Richtung zu tun hatten.
Das alles heißt nun nicht, dass man auf Statistik verzichten sollte. Der ganz oben gegebene Rat, gezielt nach Zahlen zu suchen, gilt. Allerdings:
- Gehen Sie mit Zahlen genauso vorsichtig und distanziert um wie mit Texten: Zahlen sind nicht per se "wahr", genauso wenig wie Behauptungen in einem Text.
- Bei Sekundärquellen gehen Sie möglichst zur Ursprungsquelle zurück. Amtliche Statistiken und wissenschaftliche Studien sind (in der Regel) verlässlichere Quellen.
- Lesen Sie das "Kleingedruckte" und versuchen Sie zu verstehen, wie die Daten erhoben und bearbeitet wurden.
- Achten Sie auf die typischen "Tricks" – Auswahl der Merkmale, des Zeitraums usw. – und bei Grafiken, ob zu stark vereinfacht oder verzerrt wurde.
- Stellen Sie die Frage, warum jemand eine Statistik präsentiert, und bringen Sie das ggf. auch in Ihrem Text unter, wenn Sie die Zahlen zitieren.
- Suchen Sie gezielt nach anderen Interpretationen. Beispiel: Sie haben zum Arbeitsmarkt Zahlen vom WSI-Forschungsinstitut der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung und checken das gegen beim arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft Köln, bei der Bundesagentur für Arbeit, bei Destatis oder Uni-Wissenschaftlern oder anderen Forschungsinstituten, die sich mit Arbeitsmarktpolitik beschäftigen. Hilfreich kann dabei das ThinkTankDirectory sein, ein Verzeichnis von Denkfabriken.
Blogbeitrag: "Statistik für den Gelegenheitsnutzer"
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