11. Januar 2011

Die eigene Meinung

"An welchen Stellen einer Arbeit darf ich meine eigene Meinung einbringen?", hat mir ein Student als Frage aufgeschrieben.

Dahinter steckt die richtige Vermutung, dass Meinung "fehl am Platz" sein kann, dass sie nicht überall in einer wissenschaftlichen Arbeit erwünscht ist. 

Meinung heißt: subjektive Einstellung, Überzeugung, Ansicht, Bewertung, Beurteilung, Standpunkt, Rechtfertigung, Kritik, Position-beziehen, möglicherweise auf Basis einer Weltanschauung. Meinung ist also das, was nicht "objektives" Wissen ist (also unbestreitbare Fakten oder breit akzeptierte Theorien).

In den meisten modernen Wissenschaften gilt im Allgemeinen die Forderung, dass man beim Untersuchen einer Fragestellung bitteschön die eigene Meinung außen vor lassen soll, man soll beschreiben und erklären, aber nicht werten. Man darf das Ergebnis einer Untersuchen bewerten, aber die Untersuchung selbst soll von Meinungen nicht beeinflusst werden.

Nun ist es allerdings nicht immer ganz ganz klar, wo Fakten aufhören und Meinung beginnt. In technik- und naturwissenschaftlichen Fächern ist das einfacher, in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften schwieriger. In Wirtschaft, Politik, Recht hat man es oft mit normative Fragen zu tun: Was soll sein? Wie soll man handeln?  Hier geht es also ganz schnell um Werte und Ziele.

Daten und Fakten sprechen oft nicht für sich selbst. Notwendig ist also Analyse. Wenn ich aber etwas analysiere, gehe ich in vielen Fällen von Annahmen aus, wähle einzelne Analysepunkte aus, die Art, wie ich analysiere, ist bereits ein subjektiver Vorgang. Das gilt ganz besonders, wenn ich Texte (z.B. Dokumente, Aussagen, Gerichtsurteile) analysiere. Die kann ich ja nicht einer chemischen Analyse unterziehen, sondern muss sie interpretieren, um sie zu verstehen und nutzbar zu machen. Darüber zerbrechen sich die Wissenschaftsphilosophen seit Langem den Kopf.

Hilft aber nichts: Wer wissenschaftlich arbeiten will, muss sich zwar nicht der eigenen Meinung enthalten, aber zuallererst für andere nachvollziehbar darlegen, warum etwas allgemein (und nicht nur für einen selbst) "wahr" ist. Ausagen sollen unabhängig vom persönlichen Standpunkt akzeptabel, begründbar und überprüfbar sein, "intersubjektiv nachvollziehbar", wie es so schön heißt. Das Ergebnis soll auch für den akzeptabel sein, der eine andere Meinung hat.

Was nicht heißt, dass man Sachverhalte unkritisch oder gar oberflächlich behandelt: Analyse soll durchaus kritisch sein, soll abklopfen, auseinander nehmen, hinterfragen. Eine gute Analyse hat sehr viel mit kritischem Denken zu tun (siehe dazu diesen Blogbeitrag).

In der Analyse – die im Hauptteil einer Arbeit zu leisten ist – gibt es ein paar Spielregeln zu befolgen:
  • Distanz zum Untersuchungsgegenstand zeigen, soweit es irgend geht. Volle "objektive" Neutralität ist selten möglich, aber man kann sich bemühen (und zwar bewusst und demonstrativ).
  • Logisch argumentieren. Logik ist nachvollziehbar. 
  • Alle Argumente ausdrücklich und verständlich unterfüttern, belegen, begründen.
  • Sich auf andere Quellen berufen und vergleichen. Also zeigen, dass ein Analyseergebnis oder Schlussfolgerung logisch aus den wissenschaftlichen Arbeiten anderer ("Fachautoritäten") hervorgehen kann. Dass Ihre Analyse also durch andere gestützt wird.
  • Stets prüfen, ob man etwas auch anders sehen kann. Ein "einerseits, andererseits" zeigt dem Leser, dass man nicht nur eine einzige Sichtweise präsentiert, sondern alternative Sichtweisen nebeneinander stellt. Das schreibt man dann auch so auf. Man kann von "Ausgewogenheit" sprechen, damit ist vor allem das Zulassen anderer möglicher Interpretationen gemeint – das ist sozusagen eine Fairness-Regel. Erst prüfen, dann werten.
Das alles macht die Sache zwar nicht per se "objektiv", aber "intersubjektiv nachvollziehbar".

Das hat sogar sprachliche Konsequenzen. Aus gutem Grund ist es Gepflogenheit, dass in wissenschaftlichen Arbeiten möglichst kein "Ich" vorkommen soll. Eher spricht der Autor von sich in der dritten Person ("der Autor" statt "ich").

Also gibt es keinen Platz für die eigene Meinung? Doch. Aber:
  • Man muss sie von der Untersuchung abtrennen und kennzeichnen. Der Leser soll klar sehen können, wo die Interpretation der Sache in die Formulierung eines eigenen Standpunkts übergeht. Das muss man klar formulieren. Der Leser soll Meinung jederzeit erkennen können, sie soll sich nicht verstecken und nicht in die Untersuchung eingewoben sein.
  • Einen guten Platz hat eigene Meinung überall dort, wo ein Fazit gezogen wird (Konklusion, Schlussfolgerung). Also vor allem im Schlussteil einer Arbeit. Hier ist der Platz, um zuzuspitzen, prägnant mit Thesen aufzuwarten, seine Ergebnisse mit mehr Kontext zu gewichten, zu sortieren, Gedanken fortzuführen, den Faden weiterzuspinnen und Position zu beziehen.
Eigene Positionen muss man natürlich besonders gut begründen. Man muss auch selbstkritisch sein, das heißt zeigen, dass man die eigene Position durchaus in Frage stellt und Gegenargumente aufgreift. Als Autor müssen Sie also "mit sich selbst diskutieren".

Urteilsfähigkeit ist ein wichtiges Ausbildungsziel des Studiums. Professoren finden eigene Positionierungen von Studenten daher in der Regel gut – wenn sie erläutert und begründet werden, und wenn sie nicht völlig abwegig sind und sich nicht völlig von der Faktenlage lösen. Mit einer eigenen Position, einer eigenen Meinung zeigen Sie diese Urteilsfähigkeit. Aber, wie gesagt, im Vordergrund steht immer erst die Untersuchung – das Urteil muss warten, bis zum Fazit. Sonst wär's ja ein Vor-Urteil.

2 Kommentare:

  1. In welcher Form darf ich die eigene Meinung einbringen? Die Ich-Form ist verboten, ist es also okey zu schreiben: Die Autorin befindet... oder ist das unwissenschaftlich?

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    1. Die Ich-Form ist keineswegs pauschal "verboten". Siehe dazu https://w-wie-wissenschaft.blogspot.de/2011/10/ich-form.html

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